Am 1. Juli 2002 ereignete sich einer der schwersten Flugunfälle über Deutschland. Gegen 23.35 Ortszeit kollidiert eine aus Süden kommende Boeing 757-200 (DHL Flug 611) mit der aus Osten heranfliegenden Tupolev TU-154 der russischen Fluggesellschaft Bashkirian Airlines (Flug 2937) in einer Höhe von 36.000 Fuss (11 Kilometer) über Überlingen, Baden-Württemberg nahe der Grenze zur Schweiz. 71 Menschen kommen ums Leben.
Flugunfälle geschehen immer durch eine Verkettung unglücklicher Umstände. Heute werde ich an Hand vorliegender Untersuchungsberichte und Veröffentlichungen versuchen, den Hergang der Katastrophe zu beleuchten und mögliche Ursachen aufzeigen.
Die Boeing 757-200 wie auch die Tupolov TU-154 sind bewährte Flugzeuge und gelten als sicher. Beide Maschinen entsprachen dem Wartungsstandard der EU und waren mit dem Traffic Alert and Collision Avoidance System II (
TCAS II) ausgerüstet. Dieses Sytem warnt Piloten vor sich näherndem Flugverkehr und gibt Empfehlungen zum Ausweichen. Die TCAS der aufeinander zufliegenden Flugzeuge verständigen sich automatisch. Während ein System dem Piloten eine Empfehlung zum Sinkflug gibt, empfiehlt das andere den Steigflug. Jedoch existiert für Piloten bis heute keine Verbindlichkeit den TCAS-Empfehlungen zu folgen. Auch die
Pilotengewerkschaft VC liegt hier falsch.
Des Weiteren gibt es für den deutschen Luftraum klare Regelungen. So werden gemäss Luftrecht im hier zutreffenden Luftraum Charly die IFR-Flüge gestaffelt. Die Piloten haben den Flugverkehrsanweisungen des Fluglotsen (Radarlotse) Folge zu leisten.
Die Priorität zwischen Bodenanweisungen und TCAS ist jedoch bislang nicht eindeutig geregelt. Zudem gibt es keine rechtliche Grundlage, auf der die Schweizer Flugsicherung den süddeutschen Luftraum überwacht.
Moskau, Russland - 21.00 Uhr:
Bashkirian Airlines Flug 2937 startet mit 69 Insassen - darunter 54 Kinder auf einer Auszeichnungsreise - nach Barcelona.
Bergamo, Italien - 23.06 Uhr:
DHL Flug 611 hebt mit einem kanadischen und einem englischen Piloten an Bord in Richtung Brüssel ab.
23.21.50 Uhr:
Der Pilot der Boeing 757-200 ruft Zürich Radar auf Frequenz 128.050. Der Radarlotse gibt die Anweisung von 26.000 Fuss auf 32.000 Fuss in Richtung Tango VOR zu steigen und den Transponder-Code 7524 zu setzen. Vier bis fünf Minuten später sollte die Freigabe zum Steigflug auf 36.000 Fuss erfolgen.
23.26.36 Uhr:
Die Boeing 757 erhält die Freigabe für FL360 (36.000 Fuss).
23.29.50 Uhr:
DHL Flug 611 erreicht FL360.
23.30.11 Uhr:
Noch fünf Minuten und 22 Sekunden bis zum Unglück. Die TU-154 des Bashkirian Airlines Flug 2937 meldet sich ebenfalls auf der Züricher Frequenz 128.050 auf FL360 (36.000 Fuss) und erhält Transponder-Code 7520.
Warum ist den Radarlotsen von Skyguide hier nicht aufgefallen, dass sich in ihrem Luftraum zwei Flugzeuge auf dem selben Flightlevel befinden, deren Flugrouten sich kreuzen? Zwischen der Meldung des Erreichen von FL360 der Boeing und der Meldung des FL360 durch die Tupolev vergingen nur 21 Sekunden.
Zu diesem Zeitpunkt ist die Züricher Radarkontrolle jedoch nur mit drei Lotsen besetzt. Während ein Lotse zwei Radarschrime überwacht, macht einer Kaffepause und der Dritte befindet sich nicht im operativen Dienst. Durch Wartungsarbeiten sind Telefonanlage und das Radarwarnsystem zeitweilig abgestellt.
Damit schlägt auch der Versuch des Lotsen der Deutschen Flugsicherung, seine Züricher Kollegen über die gefährliche Annährung der beiden Flugzeuge zu warnen, fehl.
23.33.03 Uhr:
Noch 2 Minuten und 29 Sekunden bis zur Kollision. Im Cockpit der russischen Maschine beginnt eine Diskussion über die TCAS-Anzeige, welche vor einem anderen Flugzeug in der selben Flughöhe warnt.
23.34:42 Uhr:
Noch 50 Sekunden bis zur Katastrophe. Die TCAS der beiden sich nähernden Maschinen geben Alarm und auch die korrekten Anweisungen. Demnach sollte die Boeing 757-200 sinken und die TU-154 steigen.
23.34.49 Uhr:
Noch 43 Sekunden. Der Radarlotse weist die TU-154 an, auf FL350 (35.000 Fuss) zu sinken.
Der russische Pilot steht nun vor der Entscheidung entweder der TCAS-Empfehlung oder der verbindlichen Flugverkehrsanweisung des Lotsen von Skyguide zu folgen. Er entscheidet sich für die gemäss Luftrecht verbindliche Anweisung.
Hatte der russische Pilot keine Möglichkeit den Züricher Radarlotsen über seine TCAS-Empfehlung zu informieren? Hörte der Pilot der Boeing 757-200 den Funkverkehr nicht mit? Er war doch auf der selben Frequenz. Warum informierte er nicht den Radarlotsen über die Einleitung seines Sinkfluges? Ein Funkspruch hätte nur wenige Sekunden benötigt.
23.35.00 Uhr:
Noch 32 Sekunden. Der Computer von Skyguide warnt akustisch vor einer möglichen Kollision, wird jedoch nicht gehört.
23.35.03 Uhr:
Noch 29 Sekunden. Der Radarlotse wiederholt seine Anweisung für den russischen Piloten zum beschleunigten Sinkflug.
23.35.13 Uhr:
Der Fluglotse verwechselt die Flugzeuge und meldet der TU-154 einen Verkehr in der Zwei-Uhr-Position auf der selben Höhe.
23:35:32 Uhr:
Die russische TU-154 bohrt sich in das Heck der Boeing 757-200. Beide Maschinen explodieren in der Luft. Die Trümmerteile gehen bei Überlingen am Bodensee nieder. Von den insgesamt 71 Insassen überlebt niemand.
Wer ist Schuld?Nach der Katastrophe haben sich die deutschen Medien beeilt, dem russischen Piloten und seinem Flugzeug die Schuld zu geben. Später sah man dann die Hauptschuld bei Skyguide und eine Mitschuld beim russischen Piloten. Aber ist dem wirklich so?
Wie die Untersuchung der
BFU ergab, erkannten die russischen Piloten gegen 23.33.03 Uhr auf der TCAS-Anzeige eine Gefahrensituation. Zum selben Zeitpunkt musste aber auch in der Boeing 757-200 das TCAS diese Situation anzeigen. Der Cockpit-Voice-Rekorder der Boeing gibt jedoch darüber keine Auskunft. Zu diesem Zeitpunkt waren alle Beteiligten auf der selben Frequenz und hatten noch! alle Zeit der Welt, nämlich zwei Minuten und 29 Sekunden, das Unglück zu vermeiden.
Als Skyguide um 23.34.49 Uhr auf die Gefahr reagiert, nämlich 43 Sekunden vor dem Unglück, hätte durch die TCAS-Empfehlungen die Situation bereinigt sein müssen, sich die Boeing im Sinkflug und die Tupolev im Steigflug befinden müssen. Selbst wenn der russische Pilot nicht reagiert hätte und auf FL360 geblieben wäre, hätte der Sinkflug der Boeing das Unglück vermieden.
Wenn man in dem Falle Schuldzuweisungen machen wöllte, dann trifft alle Beteiligten eine Teilschuld. Nämlich Skyguide, welche die Gefahr zu spät erkannt und nicht rechtzeitig klare Anweisungen gaben, gegen den russischen Piloten, der Skyguide nicht über seine gegenteilige TCAS-Empfehlung informierte, gegen den Piloten von DHL Flug 611, der weder den Fluglotsen noch den russichen Piloten darüber informierte, dass er sich bereits im Sinkflug befand und auch gegen die Behörden, die bislang nicht eindeutig regelten, welche Priorität das TCAS gegenüber den Flugverkehrsanweisungen des Fluglotsen hat. Des Weiteren zeigt sich meines Erachtens hier eine Schwäche des TCAS. Bei einer so kurzen Vorwarnzeit, von 2 Minuten und 29 Sekunden, setzt das System voraus, dass alle Beteiligten im Bilde sind und sofort richtig reagieren. Sicher, sie sollten es. Im Falle dieser Katastrophe kam es jedoch zu Ausfällen von Technik und menschlichem Versagen in Folge mangelhafter Kommunikation in Verbindung mit unzureichenden Regelungen für den Luftverkehr durch den Gesetzgeber.
Grafik: BFU
via
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